Verschwörungstheorien in Zeiten von Corona
Die große Krise der Medien
Fake-News sollten erkannt und in ihrer weiteren Verbreitung gehemmt werden. Es gibt gute Artikel, die zusammengetragen haben, wie man neue Informationen einordnet und auf Seriosität abklopft. Diese Kriterien für a) guten Journalismus, und b) seriöse Informationen gibt es.[1] Menschen, die grundsätzlich Anti-Mainstream-Medien bevorzugen, argumentieren häufig, die Journalisten „normaler“ Medien seien interessengeleitet und ihre Informationen daher nicht objektiv. Sie begreifen die Anti-Mainstream-Medien nicht als ergänzendes Angebot eines prinzipiell funktionierenden Systems, sondern als Gegenentwurf zur institutionalisierten Lüge. Um diesem Vorwurf argumentativ zu begegnen, müssen wir wissen, was Qualitätsjournalismus ausmacht. Guter Journalismus muss sich immer wieder hinterfragen und Bewertungsmaßstäbe offenlegen. Dabei muss klar sein, dass unser Wissenssystem lediglich ein Ringen um Wahrheit erlaubt und wir uns unserem Ideal lediglich annähern können.
Alles bloß subjektiv?
Darüber hinaus sollten wir über die tieferen Ursachen der Entstehung von Fake-News nachdenken. Fake-News wachsen besonders gut in einem Klima der Verunsicherung. Die Corona-Krise bildet eine günstige Voraussetzung für die Verbreitung von Zweifel in der Gesellschaft. In einem ZEIT-Artikel[2] wurden mit Blick auf die USA zwei gesellschaftliche Tendenzen herausgearbeitet, die eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Fake-News spielen. Da ist zum einen eine tiefe Wissenschaftsskepsis, welche die Wissenschaft als Instanz absoluter Wahrheit missversteht und ihr den unsteten Zuwachs an Erkenntnissen zum Vorwurf macht. So gelten derzeit unterschiedliche Erkenntnisse von Virologen und Epidemiologen vielen Menschen als Beispiel für die Orientierungslosigkeit von Wissenschaft insgesamt. Zum anderen gibt es ein großes Misstrauen gegenüber politischen Entscheidungsträgern („böse Elite“) sowie parlamentarischen Strukturen.
„Die da oben machen, was sie wollen.“
Auch in Deutschland trifft man auf diese pauschale Ablehnung faktenbasierter institutionalisierter Politik. Demokratische Entscheidungsprozesse, die eine gewisse Macht der politischen Organe mit sich bringen, erwecken in vielen Menschen tiefes Misstrauen. Die Verflechtungen von Interessen führen in der Tat dazu, dass Lobbyismus zum Problem ist, dem durch Lobbyregulierung, Transparenzgesetze und Regulierungen für Parteispenden Schranken gesetzt werden muss. Doch die berechtigte Kritik am Filz, der politischen Institutionen anhaften kann, gerät vielen zur Fundamentalkritik am Parlamentarismus. Auch nicht-politische Institutionen fallen unter die Generalkritik. Mit Blick auf Corona bedeutet dies eine Ablehnung von Institutionen wie der WHO, der UN, der EU, aber auch der Pharmaindustrie.
Wie kommen Menschen dazu, diese demokratischen Institutionen, die ja aus dem Geist der Aufklärung entstanden sind, prinzipiell abzulehnen? Die Frage ist wichtig, denn auf dem Boden dieser Ablehnung gedeihen Irrationalismus und Verschwörungstheorien. Ein Grund ist die Mittelbarkeit des Systems. Mit der Komplexität einer Gesellschaft werden Entscheidungen undurchdringbar. Sie werden scheinbar nicht mehr auf der Grundlage von Verhandlungen, sondern in einem in sich geschlossenen System verfügt. Die Maschinerie erscheint kafkaesk grausam und unerbittlich, wenn ihre Anforderungen einer Person persönliche Nachteile erbringen, gegen die anzurennen sinnlos scheint. Es liegt nahe, nach Schuldigen zu suchen, und scheint leicht, diese zu finden.
Realer Filz und irrationale Wut
Die Unkenntnis darüber, wie das politische System samt seinen Exekutivorganen funktioniert, welche Kontrollmechanismen verhindern, dass der zu Recht kritisierte Lobbyismus sich zum schwerwiegenden Systemfehler auswachsen kann, befeuern diese Ohnmacht. Was die Differenzierung erschwert: Diese Ohnmacht ist ein Stück weit Realität. Schließlich gibt es – nicht zuletzt durch den Rückzug von staatlichen Geldern aus Organisationen wie der WHO – eine Zunahme an Lobbyismus und interessengeleiteter Politik, und wer einmal Hartz IV beantragt hat, weiß, wie sich Behördenwillkür anfühlen kann. Der Skandal, in dem die WHO zum Beispiel im Rahmen der Schweinegrippe[3] geriet, ist ein gutes Beispiel, dass Behörden und Verwaltungen um Transparenz und Kontrolle ringen müssen und dass dieses Ringen nie endet. Dieses Ringen wird vom Qualitätsjournalismus abgebildet, aber vielleicht nicht genug?
Der Feind muss weg
Wer jedoch von den Zumutungen des Systems dauerhaft frustriert ist, will irgendwann womöglich das nicht perfekte, lobbyanfällige System nicht mehr verbessern, sondern gleich ganz abschaffen. Kommen dann noch der Hang zur Mystik sowie die Neigung hinzu, die eigene ohnmächtige Situation im Kontext einer vermeintlichen Besserstellung Anderer zu sehen, sprich in Feindbildern zu denken, dann ist der Weg in in die Irrationalität nicht mehr weit.
„Da steckt mehr dahinter“, steht in mehr als nur einem Kommentar unter einem YouTube-Video des Lockdown-Kritikers Professor Sucharit Bhakdi. Dieses „Mehr“ impliziert die Existenz einer dämonischen Macht. Es ist die Konstruktion einer Macht, die durch ihre breite Erzählweise gleich mehrere Feindbilder in sich vereinen kann und nicht selten in der Annahme einer jüdischen Weltmacht gipfelt. In dieser „Übertheorie“, einer „übergeordneten Erzählung“, lassen sich alle Annahmen von Ungerechtigkeit und alle gefühlten Zumutungen integrieren. Die übergeordnete Erzählung fungiert als Auffangbecken des Hasses, der die täglich gefühlte Demütigung durch das „System“ erträglich machen soll.
Gegen den Strom
Fake-News spielen eine wichtige Rolle für die „übergeordnete Erzählung“, sie haben die Aufgabe der Umdeutung. Wir alle sind in unserem Alltag mit Aussagen konfrontiert, die uns beeinflussen und ggf. unser Weltbild verändern. Wenn wir hören, dass in Italien 20.000 Menschen an Corona gestorben sind, wirkt sich diese Information auf das Gesamtgefüge unserer Einstellung aus und verursacht Ängste. In Krisenzeiten, in denen auf der Grundlage von Ereignissen situative Politik betrieben wird, die sich auf das Individuum auswirkt, kollidieren die Fakten und damit einhergehenden Sorgen mit der Angst, sich dem System (noch mehr) auszuliefern. Dieser innere Konflikt ist die Keimzelle des Widerstands. Fake-News können diesen Nachrichten jedoch einen anderen Kontext geben.
So wurde auf der 250 000-fach gelikte Facebookseite „Der Wächter“ verbreitet, Corona sei in einem Labor als Biowaffe entwickelt worden. Mit der Behauptung, Corona sei ein patentiertes Virus, geht der österreichische Heilpraktiker Dr. Rüdiger Dahlke in eine ähnliche Richtung. Gemeinsam ist diesen Fake-News die Behauptung, das Virus sei menschengemacht und von gewissen Eliten gewollt. Jede Kontaktbeschränkung von Seiten der Politik wirkt in dem Kontext dieser Erzählung unnötig und falsch, eben weil es „Profiteure der Angst“ gibt, durch deren Machenschaften die Angst überhaupt entstanden sei. In diesem Lichte sind Fake-News nicht nur in der Lage, das Beunruhigende eines tödlichen Krankheitsgeschehens aufzufangen, sondern auch die Angst vor Krankheit und Tod in Wut zu drehen und diese auf staatliche Zumutungen zu richten.
Aus Ohnmacht wird Macht
Krieg, Klimawandel und insbesondere schwere Krankheiten sind existenzbedrohende Ereignisse, deren Verlauf unkalkulierbar ist. Viele Menschen sind angesichts einer unsichtbaren Gefahr lieber Opfer der Intrige einer menschlichen Elite als Opfer eines Virus. Denn man ist ja nicht nur dem Virus hilflos ausgeliefert, was schlimm genug wäre, sondern auch der Informationspolitik und dem die Freiheitsrechte einschränkenden Maßnahmenkatalog der Behörden. Ist das Virus jedoch Ergebnis der Machenschaften einer Elite, kann man diese Machenschaften nicht nur aufdecken und durch die Aufdeckung gleichsam entdämonisieren. Man erträumt sich durch den Kampf gegen die dämonische Elite eine Gegenmacht, die mindestens ebenso groß ist. Teil dieser Gegenmacht zu sein, kann dem ohnmächtigen sprichwörtlichen „kleinen Mann“ (der natürlich auch weiblich sein kann) das Gefühl von Selbstwirksamkeit zurückgeben.
Als Teil dieser machtvollen Gegenverschwörung ist es folgerichtig, die Corona-Maßnahmen zu boykottieren. Es liegt eine gewisse Heilserwartung in der Luft, sobald man in den Kampf „Gut“ gegen „Böse“ zieht. So gibt es eine Querfront-Bewegung „Widerstand2020“, die sich als Rebellenbewegung stilisiert. In einem Klima der Anti-Aufklärung können diese Theorien der Bewältigung zum Mainstream werden, dessen Glaubenssystem durch den kontinuierlichen Zufluss von Fake-News immer wieder stabilisiert werden muss.
Wo Fake-News nicht gut wachsen können
Daher ist es wichtig, Fake-News durch Faktenchecks und Medienkompetenz immer wieder zu entkräften, aber auch ihnen den Nährboden zu entziehen. Zu Beginn der Krise war Kritik an den Maßnahmen und Verweise auf schädliche Auswirkungen unterrepräsentiert, möglicherweise zurecht, da das Handeln der Regierung angesichts der Gefahr einer exponentiellen Steigung der Infektionsrate wohl alternativlos war. Erst zaghaft wurde der Fokus auch auf die Schattenseiten der Maßnahmen gelenkt, vermutlich zu spät und zu zaghaft.
Dies hat viele Menschen in dem Glauben bekräftigt, da werde eine „Meinungsdiktatur“ betrieben. Wer ohnehin schon dazu neigte, überall Zeichen von Bevormundung zu sehen, war einmal mehr der Ansicht, hier werde etwas vertuscht.
Inzwischen gibt es wieder einen Meinungspluralismus, in dessen Rahmen zum Beispiel das „schwedische Modell“ als erfolgreicher Sonderweg präferiert werden darf. (Ob er das ist, ist eine andere Frage.) Dass in einer Demokratie sehr wohl einzelne Ergebnisse in Frage gestellt werden dürfen, und zwar auf der Basis von Wissenschaft, Rationalismus und Parlamentarismus, sollte immer wieder herausgestellt werden. Dies ist unter anderem auch Aufgabe von Qualitätsjournalismus.
2) https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-04/corona-usa-donald-trump-krise-strategie-wahrheit