Wer informiert die Informationsgesellschaft?
Die Quellen, aus denen das Wissen der Informationsgesellschaft fließt, haben sich radikal verschoben. Mit der Erfindung des Buchdrucks im 15-ten Jahrhundert floß der größte Teil der Wissensströme jahrhundertelang aus den Buchstaben des bedruckten Papiers in die Köpfe und auch in die Herzen. In nur einer einzigen Dekade – dem vergangenen Jahrzehnt – hat sich dies auf eine Art und Weise und mit einem Tempo radikal verändert, wie es die gesamte Geschichte der Menschheit noch nicht erlebt hat.
Vor einem Jahrzehnt war diese Entwicklung abzusehen, doch damals wollte sie kaum jemand sehen, denn diese Einsicht war störend. Solange der Umsatz von Print-Medien Selbstläufer war, entfiel die Motivation, neue Medien wahrzunehmen. Solange die Musikindustrie mit dem Verkauf von Tonträgern wie Schallplatten oder CDs gut verdiente, bestand keine Notwendigkeit einer Adaptierung neuer musikalischer Fließkanäle. Auch für wirtschaftliche Veränderungsprozesse gilt etwas, das in der Physik als „Massenträgheitsgesetz“ wohlbekannt ist: nur wenn äußere Ereignisse die Alternative stellen „untergehen oder verändern“, geschehen Veränderungen, und das auch nicht immer – manches wird untergehen. Die letzte Branche, die gerade vor einem Umbruch steht, ist die der bewegten Bilder; auch sie wird der Sturm dieser technischen Revolution zu neuen Ufern treiben oder manches wird untergehen.
Die Ursachen der Entwicklung sind technischer Art: die Digitalisierung und deren Vernetzung durch das Internet. Mittlerweile zwingt die Eigendynamik dieses digitalen Vernetzungsprozesse Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zum Umdenken, zum Mitwachsen, zur Adaptierung.
Die Hüter der Buchstaben des bedruckten Papiers und dessen Vorläufer waren für Jahrtausende die Bibliotheken. Sie waren damit auch die „Hüter des Wissens“. Mit dem Untergang der Bibliothek von Alexandria ging ein Teil des Wissens der antiken Welt verloren. In der heutigen Situation ist die Lage anders: die Buchstaben fliessen nicht mehr allein ins Papier, sondern in die vernetzte Digitalwelt, ebenso wie die Bits und Bytes aus anderen Medien. Das „Hüten und Verbreiten bedruckten Papiers“ verliert seine Bedeutung als Kernaufgabe von Bibliotheken. Nur diejenigen, welche es verstehen, die neue Digital- und die alte Papierwelt symbiotisch zusammenzuführen, überleben. Parallel entstehen in der vernetzten Digitalwelt auch völlig neue Formen des Wirtschaftens und Kommunizierens.
Bis hierher ist der Prozess der radikalen Umstrukturierung der Wissens- und Informationsquellen nur sehr grob beschrieben, aus weiter Ferne betrachtet. Eine genauere Beschreibung erfordert, genauer hinzusehen, an welchen Orten der vernetzten Digitalwelt die Quellen des Wissens liegen und wie die Informationsströme fliessen. Hierzu müssen wir das Bild von den Quellen und Strömen verfeinern und erweitern.
Der Medienkünstler Bernd Hopfengärtner hat das Bild der Informationsquellen und Ströme in ein dreidimensionales Landschaftsbild „Nirgendwo“ umgesetzt, welches Flüsse und Täler als Folge realer Informationsströme zeigt: „NOWHERE ist eine sich in der Entstehung befindende Landschaft. Die Nutzer der Suchmaschinen erodieren mit ihren Suchbewegungen Flüsse, Schluchten und Täler. Suchanfragen, die nur für den Bruchteil einer Sekunde duch das Internet schießen und eine Response auf den Bildschirmen der Suchenden generieren werden mit Hilfe einer dreidimensionalen Fräsapparatur in ein Material geschrieben.“ Medienkunst reflektiert den radikalen Umbruch in der Informationsgesellschaft. Und sie macht ihn greifbar, sichtbar, anfassbar. Gleichzeitig nutzt die Medienkunst das Medium zur Präsentation ihrer Werke: siehe: www.no-surprises.de
Im verfeinerten Bild sind Informations-Quellen die über das Internet verbundenen Computer, auf denen digitales Wissen in Form von Bits und Bytes abfließbar gespeichert ist. Informations-Ströme sind dann die Wege, auf denen diese Bits und Bytes zu anderen Computern des Netzes und den dahinter sitzenden Menschen fliessen. Zu den Quellen und Strömen kommt nun jedoch ein weiteres Element hinzu, welches von vorherein in der Entwicklung nicht absehbar war, und welches auch nicht zwangläufig notwendig wäre, welches sich aber als hochpragmatisch und damit unverzichtbar erwiesen hat. Denn die Anzahl der Informationsquellen der vernetzten Digitalwelt hat ein Ausmaß erreicht, dass zuvor unvorstellbar war: die Anzahl der Computer mit gespeichertem digitalen Wissen, der „Server“ („Dienstleister“), liegt im Bereich oberhalb hundert Millionen. Kein Mensch wäre auf seiner Informationssuche in der Lage, in seinem begrenzten Leben hiervon auch nur einen Bruchteil zu durchsuchen.
Darum benötigt die vernetzte Digitalwelt ein Steuerungselement für den Fluss der Wissensströme: den Informations-“Lenker“, den „großen Steuermann“, der dafür zuständig ist, dass das Wissen zu demjenigen fliesst, der es haben will, und der ohne den Lenker kaum eine Chance hat, die richtige Quelle zu finden.
Diese
Lenkungsfunktion haben Elemente übernommen, die in der
Konzeptionsphase des weltumspannenden Netztes noch gar nicht
vorgesehen waren – man nennt sie heutzutage „Suchmaschinen“. Ihre
Aufgabe ist es, Fragestellungen nach Information in die „richtigen“
Kanäle zu lenken. Ohne diese Lenkungsfunktion wäre der
Fragesteller hilflos. Sein Dilemma liegt nun jedoch darin, dass „der
Lenker“ entscheidet, was „richtig“ ist – und damit auch, was
„falsch“ ist, welche Information der Fragesteller NICHT
zu sehen bekommt.
Man
mag nun einwenden, dass dies nichts Neues sei, dass wir die
Auswahlfunktion dessen, was „richtig“ und „falsch“ ist, in
der Ära des bedruckten Papiers auch hatten: derjenige, der den
Druckauftrag erteilte – die Zeitung, der Verlag – entschied bisher
darüber. Auch hier haben wir einen Bewertungs- und
Selektionsprozeß. Er funktionierte deswegen, weil wir sehr
viele „Druckauftraggeber“ hatten: Meinungsvielfalt in einer
pluralistischen Gesellschaft. Und genau das ist in der
vernetzten Digitalwelt verloren gegangen, denn die Lenkungsfunktion
haben einige wenige globale Konzerne übernommen – eigentlich
gibt es de facto nur noch einen „großen Steuermann der
Informationsflüsse“, das ist die Aktiengesellschaft mit dem
Namen „Google“ mit einem Marktanteil von mehr als 90% in
Deutschland.
Damit
eine solche Meinungsmacht in Deutschland eigentlich(!) gar nicht erst
entstehen kann, haben wir gesetzliche Regelungen, und sogar eine
Einrichtung mit dem Namen „Kommission zur Ermittlung der
Konzentration im Medienbereich(kurz: KEK)“. Unser Regelwerk
bestimmt, dass bei einem Marktanteil zwischen 25% und 30% eine
markbeherrschende Stellung vorliegt, und dass dann für die
betreffende Firma besondere Regelungen gelten. Nun würde jeder
vernünftig denkende Mensch annehmen, dass bei einem Marktanteil
oberhalb 90% diese Regelungen auch für eine Meinungsmacht in der
vernetzen Digitalwelt gelten. Umso erstaunlicher ist es, dass dies
nicht der Fall ist, denn als die gesetzlichen Grundlagen gegen das
Entstehen von Meinungsmacht in Deutschland formuliert wurden, waren
Szenarien wie die heutige Digitalwelt unvorstellbar. Die damals
formulierten Gesetzestexte gelten nur für die konventionellen
Medien! Hier herrscht also immer noch „rechtsfreier Raum“.
Warum
erweitert nun der Gesetzgeber den genannten Ansatz zur Verhinderung
von Meinungsmacht nicht einfach in diesen digitalen Raum? Dies hat
zwei Ursachen. Erstens ist für die Politik, genauso wie für
die Wirtschaft, dieser Raum ein völlig neuer, der zunächst
einfach nur „störend“ in eingefahrenen Gleisen ist. Als die
vernetzte Digitalwelt unübersehbar wurde, als zwingender
Handlungsbedarf im zunächst nahezu völlig rechtfrei
erscheinenden Raum sichtbar wurde, kümmerte sich der Gesetzgeber
um allerhand andere Aspekte. Hier kamen Geburten – ich vermeide
gerade eben noch das naheliegende Wort „Missgeburten“ – wie das
Telemediengesetz, der Jugendschutz, oder die aktuelle Diskussion um
die heimlichen Online-Durchsuchungen privater Computer auf die
vorderen Plätze. Da die technische Materie auch für den
Gesetzgeber völlig neu war und ist, sind die politischen
Entscheidungsträger der Expertise (oder dem Un-Wissen) ihrer
Berater auf Gedeih und Verderb ausgeliefert – ganz anders, als wenn
es Gesetze zur Verkehrsregelung oder gegen das Rauchen in Gaststätten
zu machen gilt.
Der
zweite Grund, warum der Gesetzgeber den genannten Ansatz zur
Verhinderung von Meinungsmacht nicht einfach in den digital
vernetzten Raum erweitert, liegt darin, dass dieses Problem bisher
kaum als Problem wahrgenommen wird. „Informationssuche“ heisst
„googeln“, und warum darüber nachdenken? So sind wir in die
vernetzte Digitalwelt hineingewachsen und das ist einfach so. Die
Zeit, in der es auch im digitalen Raum noch Vielfalt unter den
„Informationsstrom-Lenkern“ gab, liegt für die meisten
Nutzer der Digitalwelt vor ihrer „digitalen Geburt“.
Die
Frage der Überschrift dieses Aufsatzes heisst „Wer informiert
die Informationsgesellschaft?“. Die Antwort ist einfach: eine
amerikanische Aktiengesellschaft hat diese Aufgabe übernommen.
Diese
Aktiengesellschaft hat die Aufgabe nicht „kraft souveräner
Willkür“ irgendeines Staates oder einer Institution
übernommen, es „hat sich so ergeben“, die Marktwirschaft
hat es geregelt. Da heutzutage fast alles, was die Marktwirschaft von
selber regelt, angeblich nur gut sein kann, kann auch diese
„Regelung“ (eine amerikanische Aktiengesellschaft informiert die
Informationsgesellschaft) offenbar in den meisten Köpfen nicht
als „schlecht“ angenommen werden.
Trotzdem
muss die Frage bleiben: wollen wir das wirklich? Stehen wir wiederum
an einer Stelle, wo Einsicht störend ist? Wollen wir diese
gebündelte globale Macht in die Hand einer einzigen Firma
übertragen? Diese Firma mag derzeit ihre Aufgabe so gut, so
verantwortungsvoll wie nur denkbar erfüllen. Aber stellen wir
uns doch nur mal vor, dass ihre Interessen anders gesteuert werden.
Wahrscheinlich stört diese Vorstellung und alles, was daraus
resultiert.
Wolfgang Sander-Beuermann