Gauck und die Digitalisierung
Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck hat jüngst einen Artikel veröffentlicht[1], der seine eigene Sozialisation mit digitalen Medien zum Gegenstand hat. Einst sei er in der Haltung selbst eher kritisch und skeptisch gewesen, doch jetzt sehe er inzwischen die Chancen, meint er sinngemäß. Er misstraue jenen, die sich von Sicherheitsbedenken davon abhalten lassen würden, sich der digitalen Entwicklung zu stellen. Der Tenor seines Aufsatzes lautet dementsprechend: man solle die Digitalisierung mitgestalten, anstatt sich ängstlich von ihr abzuwenden.
Dass man Entwicklungen besser kreativ und selbstbestimmt begleitet als einfach ignoriert, ist natürlich richtig und kann nur unterstrichen werden. Auch hat er recht, wenn er die Janusköpfigkeit vieler Nutzer anspricht, die zwar einerseits ungern Daten preisgeben, ihre Bedenken andererseits ohne mit der Wimper zu zucken der Bequemlichkeit und dem Komfort opfern, wenn Programme und Tools es erfordern. Eine Untersuchung von DIVSI und dimap hätte laut Gauck ergeben, dass 64% der Deutschen bei der digitalen Zustellung staatlicher Dienste um die Sicherheit der Daten besorgt wären. Offenbar hat ein großer Teil der Bevölkerung also bezüglich der Datensicherheit ungute Gefühle, sodass die Gruppe der Skeptiker zumindest in Teilen deckungsgleich sein muss mit der andererseits ebenso großen Gruppe derjenigen, die sich im digitalen Alltag einen feuchten Kehricht um den Datenschutz kümmern.
In der Tat kommen die DIVSI Studien zu einem bemerkenswertes Ergebnis. Doch Gauck fragt sich an der Stelle nicht, warum die Angst vor Datenmissbrauch zu keiner entsprechenden datenschützenden Handlung führt. Vielmehr stellt er die Skepsis als solche in Frage. Die Angst vor Datenmissbrauch sei angesichts dieser mangelnden Bereitschaft, Datenschutz zu praktizieren, Heuchelei, schreibt er. Zwar gebe es Fälle, in denen der Staat Bürger ausspähe, gibt er zu. Die Internetkonzerne hingegen hackten sich nicht ein und hörten uns nicht gezielt ab. Sie sammelten lediglich, was ihnen freiwillig angeboten würde, meint Gauck. Daher hat er auch für das 1984-Szenario im Gewande einer digitalen Überwachungsgesellschaft nichts übrig. Er räumt ein, dass die Digitalisierung zu weitreichenden Veränderungen führen kann, die alte Gewissheiten ins Wanken bringen. Er fordert aber, dass man Entwicklungen aufgeschlossen sein soll. „Sollten wir nicht auch viel stärker darüber nachdenken, wie das Leben aussehen wird, wenn Roboter und künstliche Intelligenz feste Bestandteile unserer Welt geworden sein werden? Fürchten wir nicht alle, dass sich die Rolle des Menschen dann grundlegend verändern könnte?“ fragt er. Ja, kann man da antworten, darüber sollte man in der Tat nachdenken, vor allem sollte man sich fragen, ob man jede machbare Entwicklung auch will.
Was er dabei ausblendet: die Angst vor staatlicher Willkür ist nicht unbegründet, ob nun janusköpfig oder nicht. Der Staat greift zunehmend auf Daten zurück, zum Zwecke der inneren Sicherheit. Der NSA-Skandal hat bekanntermaßen auch deutsche Behörden schwer in Bedrängnis gebracht. Staatliche Behörden haben nach wie vor ein großes Interesse an Internetdaten gewisser Nutzer und dürfen diese im Rahmen des 2016 veränderten BND-Gesetzes auch einsehen. Mit Beschluss des Gesetzes zum alltäglichen Einsatz von Staatstrojanern [2] ist ein weiterer Schritt unternommen worden, die staatlichen Überwachungskompetenzen auszudehnen. Leider ist es nicht so, dass Unschuldige nichts zu befürchten haben. Diese Maßnahmen können mithilfe der neuen legalisierten Bewachungsoptionen durchaus auch normale, unauffällige Menschen betreffen, die nicht direkt einer Straftat verdächtigt werden, sondern lediglich (digitalen) Umgang mit Straftätern pflegen, möglicherweise ohne von den Umtrieben der Person zu wissen, oder die zufällig mit der falschen Person vernetzt sind. Das sogenannte „Predictive Policing“, welches einen Algorithmus darstellt, mit dem die Polizei Verbrechen in der Zukunft voraussagen will, ist zudem inzwischen auch in Deutschland ein anerkanntes Verfahren zur Prävention und kann ebenfalls dazu führen, dass man in den Fokus der Behörde rückt, mit allen Implikationen. Die neuen verbesserten Möglichkeiten staatlicher Eingriffe in die Privatsphäre begründen daher ein gesundes Maß an Misstrauen, was die Sicherheit der eigenen Daten anbelangt.
Zum anderen erfasst sich der Mensch durch die digitalen Selbstvermessungen, Selbstverortungen und Profilerstellungen auch in der Tat fleißig selbst, was ihm vielleicht einen Zugewinn an Individualität und Komfort verspricht, aber gewaltige Datenmengen aufwirft. Der Kulturwissenschaftler Andreas Bernard beschreibt in seinem neuen Buch „Komplizen des Erkennungsdienstes“ wie sich die Menschen mit ihrem digitalen Verhalten den Behörden zum Komplizen machen. Er weist nach: Die Selbstvermessungstechnologien stammen sämtlich aus den Technologien staatlicher Kontrolle, vom Profiling angefangen bis hin zum Self-Tracking. Die Nutzung von GPS-Sendern in Smartphones ist so betrachtet die Analogie der elektronischen Fußfessel. Auch der in der neoliberalen Gesellschaft entstandene Selbstvermarktungszwang bringt die Menschen dazu, ständig Selbstauskünfte zu geben und sensible Daten freiwillig öffentlich zu machen. Bernard resümiert: „Zweifellos gehört es zu den auffälligsten Kennzeichen der Gegenwart, dass Prozesse der Normierung und Regulierung von Menschen, die bis vor wenigen Jahrzenten von einer staatlichen, wissenschaftlichen oder polizeilichen Instanz gesteuert worden sind, nun auf die betreffenden Individuen übergehen.“ [3] Diese Verinnerlichung von Kontrolle hat für unsere Gesellschaft weitreichende Folgen, deren Auswirkung auf die Demokratie wir noch gar nicht abschätzen können. Dass ein großer Teil der Bürger daher von unguten Gefühle heimgesucht, wenn es beispielsweise um die Sicherheit vernetzter Geräte geht [4], kann angesichts dieser Komplizenschaft mit dem Erkennungsdienst als gesunder Reflex betrachtet werden.
Was aus Andreas Bernards Ausführungen aber ebenso folgt: Wer erst mal in den Fokus einer Behörde gerät, kann leicht Opfer seiner individualisierten, smarten Technologien werden, die sich dann plötzlich in staatliche Kontrollinstrumente verwandeln. Wir können noch gar nicht absehen, welche höchst persönlichen Daten der Schrittzähler, Schlafanalyse-Apps, etc. hierbei für die Behörden relevant sein können. 1984 reicht da in der Tat nicht als Analogie, um ein mögliches Szenario zu beschreiben! Joachim Gauck spricht in dem Artikel mit gewandter Fortschrittsrhetorik vom Mut, sich dem digitalen Wandel zu stellen. Doch ist es nicht viel eher die Skepsis, an der wir ansetzen sollten? Liegen nicht genau am Grunde unserer Angst die gesunden Überreste des Privatsphärenbedürfnisses, welches grundlegend für eine humane Gesellschaft ist? Schließlich wollen wir eine Entwicklung, die mehr ist als die Akzeptanz von scheinbar Unvermeidbarem, die vielmehr den Mut beinhaltet, die Richtung selbst zu bestimmen. Und eine Gesellschaft, die vor allen Dingen frei ist.
Manuela Branz
[3]Bernard, Andreas (2017) Komplizen des Erkennungsdienstes, Das Selbst in der digitalen Kultur, Frankfurt am Main